Sehr geehrte Damen und Herren, vielen Dank, dass Sie der Einladung zur Protestaktion „Der letzte Kittel“ gefolgt sind.
Zu Beginn bitte ich um Verständnis, dass ich immer alle Geschlechter meine, auch wenn ich nur das weibliche Geschlecht anspreche, da in den öffentlichen Apotheken in Deutschland über 90 Prozent Frauen beschäftigt sind. Ich betone das deshalb, weil die derzeitige Bundesregierung die Gleichstellung als wichtigen Punkt in ihr Regierungsprogramm aufgenommen hat.
Die aktuelle katastrophale Versorgung der Bevölkerung Deutschlands mit Arznei- und Hilfsmitteln, Medizinprodukten sowie lebensnotwendigen Diätetika verdanken wir unserem amtierenden Gesundheitsminister Herrn Lauterbach. Er hat an der Seite von Ex-Gesundheitsministerin Frau Ulla Schmidt im Jahre 2003 den Grundstein für diese Misere gelegt.
Über die letzten 20 Jahre wurden durch die politischen Entscheidungen der jeweiligen Gesundheitsminister und der uneingeschränkten Macht der gesetzlichen Krankenkassen die Funktionalität unseres Gesundheitswesen soweit zusammengespart, dass es nun wie ein riesiger Trümmerhaufen nicht mehr reparabel, sondern in sich zusammen gefallen ist, als wäre eine Abrissbirne eingeschlagen.
Doch wie konnte das passieren?
Die Ursache liegt in den jahrelangen Einsparungen, die durch Gesetze und Verordnungen diesem System aufgezwungen wurden.
Mit der Einführung des Gesetzes zur Modernisierung des Gesundheitswesens reformierte die Politik auch die Vergütung für verschreibungspflichtige Arzneimittel und zwar auf der Basis von Zahlen aus den Jahren 2002 und 2003.
Im Jahre 2013 gab es eine marginale Anpassung des Apotheken-Honorars um 3 Prozent, während die Inflationsrate aber um über 15 Prozent gestiegen war.
Trotz eines weiteren Anstiegs der Inflationsrate auf jetzt über 41 Prozent seit 2004 blieb eine weitere Honorarerhöhung aus. Stattdessen wurde unser Zwangsrabatt, den wir den gesetzlichen Krankenkassen gewähren müssen sogar erhöht!
Wir können gar nicht so schlecht arbeiten, wie wir honoriert werden.
Ich habe an jeden Einzelnen von Ihnen ein paar persönliche Fragen. Diese müssen Sie jetzt nicht sofort beantworten, aber ich möchte Sie bitten, darüber nachzudenken.
1. Würden Sie für ein Entgelt arbeiten, das vor 20 Jahren festgelegt wurde? Und davon noch über 20 Prozent Rabatt abgeben, weil es per Gesetz angeordnet ist?
2. Würden Sie mindestens 20 nicht honorierte Dienstleistungen über Jahre hinweg für die unantastbare Institution GKV durchführen?
3. Würden Sie das Inkassorisiko tragen, wenn pharmazeutische Hersteller insolvent gehen und dann deren verpflichtenden Rabatt bezahlen?
4. Würden Sie ein per Gesetz eingeführtes Sicherheitssystem, genannt Securpharm, unentgeltlich umsetzen und dafür sogar eine Nutzungsgebühr bezahlen, nachdem Sie schon aus eigener Tasche neue Hardware dafür angeschafft haben, um den dafür notwendigen technischen Anforderungen gerecht zu werden?
Nein? Aber wir müssen es per Gesetze und Verordnungen.
Aufgrund immer weiterer steigender Kosten, Inflation, Steigerung der Tarifgehälter, zunehmender unbezahlter Bürokratie und Dokumentationsaufgaben, diese im Einzelnen hier aufzuführen würde den Rahmen sprengen, ist die Anzahl der Vor-Ort-Apotheken über die letzten Jahre massiv gesunken. Allein im letzten Jahr haben 393 Apotheken deutschlandweit für immer geschlossen und der Chefkittel wurde zum allerletzten Mal getragen.
Und nein, Umsatz ist nicht Ertrag!
Und nein, ein hochpreisiges Arzneimittel ist ein Verlustgeschäft, weil allein das Risiko von der gesetzlichen Krankenkasse die ärztliche Verordnung nicht bezahlt zu bekommen, existenzgefährdend sein kann und man es eigentlich als Diebstahl bezeichnen muss!
Je höher der Einkaufspreis eines Arzneimittels ist, umso mehr profitiert der Staat über die MWST und umso mehr steigt das Risiko für die Apotheke. Denn es bleibt leider gerne unberücksichtigt, dass auch wir die Ware für teures Geld ohne Skonti oder Rabatte kaufen und auf der anderen Seite aber diese den Krankenkassen gewähren müssen.
Und ganz ehrlich, sehe ich denn wie eine porschefahrende Großverdienerin aus? Oder könnten Sie sich vorstellen, dass ich eine bodenständige, fleißige Mutter und Chefin eines tollen meist halbtags arbeitenden Frauenteams bin? Sie können mich gerne in meiner Apotheke in Zwickau besuchen.
Um heute mit Ihnen hier sprechen zu können, habe ich meine Apotheke wegen Fachkräftemangel eher schließen müssen. Ich nehme diesen finanziellen Verlust bewusst in Kauf, weil es mir aufgrund meines Ehrenamtes als Vorsitzende der Freien Apothekerschaft e. V. enorm wichtig ist, auf die massiven Probleme meines Berufszweiges hier und heute öffentlich hinzuweisen.
Wussten Sie, dass jeder Apothekenmitarbeiter bei Vorlage einer ärztlichen Verordnung erstmal 24 Punkte auf dem Rezept auf Formfehler prüfen muss, ob das Rezept vom Arzt korrekt ausgestellt wurde? Vorher kann keine Versorgung des Patienten erfolgen.
Bei einer Anzahl von über 1,2 Millionen Kassenrezepten pro Tag in allen Apotheken Deutschlands können Sie sich sicherlich vorstellen, wie aufwendig und anspruchsvoll diese Rezeptprüfung ist. Nur ein einziger marginaler Fehler, den wohlgemerkt nicht die Apotheke, sondern der ausstellende Arzt zu verantworten hat, führt zu einer „Retaxation auf Null“. Das bedeutet, das Arzneimittel wird nicht von der Krankenkasse bezahlt, obwohl der Patient korrekt versorgt wurde.
Den Herstellerrabatt und die gesetzliche Zuzahlung des Patienten behält aber die Krankenkasse!
Die Apotheken vor Ort wurden über einen Zeitraum von über 18 Jahren gesetzlich, zum Wohle der GKV, kaputt gespart. Wer will sich das denn noch antun?
Deshalb gibt es auch einen akuten Fachkräftemangel. Unsere hervorragend ausgebildeten pharmazeutischen Mitarbeiterinnen bekommen in anderen Berufsfeldern, bei entspannten Arbeitszeiten, eine bessere Vergütung, Wertschätzung und Aufstiegsmöglichkeiten. Aber durch den verpflichtenden Kontrahierungszwang rund um die Uhr, können wir Apothekeninhaberinnen leider nicht die gewünschte „Work-Life-Balance“ anbieten.
Unsere Teams haben eine wesentlich höhere Honorierung verdient. Sie waren in den letzten 3 Jahren immer im Einsatz und haben mit ihren Chefs alle zusätzlichen staatlich auferlegten Aufgaben gewissenhaft, mit hoher Qualität und ohne Homeoffice umgesetzt. Unsere Kinder waren im Homeschooling allein auf sich gestellt. Wir Apotheken-Mütter waren ja im Einsatz, um für die Bevölkerung da zu sein und der Politik das Gesicht zu wahren. Während die Mehrheit im bezahlten Homeoffice war und dabei ihre Wohnungen tapezierten und Gärten aufhübschten.
Es wurde nie darüber gesprochen, dass auch wir mit unseren Teams Angst vor dem unbekannten Virus hatten.
Selbst die Herausforderungen wie Masken, Desinfektionsmittelherstellung, Coronatests, Impfzertifikate, Belieferung der Corona-Impfstoffe haben wir, unter den damaligen Umständen, in kürzester Zeit, mit viel Energie, sowohl persönlichem und finanziellem Einsatz, umgesetzt. Unsere dafür jeweils vorgesehene Honorierung wurde jedes Mal gekürzt, mitunter mehrfach. Man darf den personellen Aufwand, die Kosten für Schutzbekleidung und die zu zahlenden Steuern nicht vergessen.
Nein, wir haben uns damit nicht „dumm und dämlich“ verdient. Wir haben viel zu viel zusätzlich geleistet und viele Kolleginnen haben bis heute noch nicht ihre Entlohnung für die Bürgertests erhalten.
Erinnert sei auch an alle Kolleginnen, die durch die Insolvenz des Rezeptabrechners AVP in eine finanzielle Schieflage gekommen sind oder sogar ihre Existenzen verloren haben. Kein Politiker hat sich für die betroffenen Kolleginnen eingesetzt, kein Einziger! Auch der Staat hat nicht geholfen, so wie bei anderen Unternehmen wie z.B. Lufthansa.
Hier werden die Prioritäten falsch gesetzt! Was ist wichtiger, bequemes Reisen oder die flächendeckende Arzneimittel-Versorgung? So verdeutlicht die Politik die fehlende Wertschätzung gegenüber Apotheken mehr als eindrucksvoll.
Das ist aber noch nicht alles, was die Wertschätzung gegenüber ca. 150 000 Beschäftigten in den öffentlichen Apotheken zeigt.
Die Büchse der Pandora wurde geöffnet, als das Versandverbot von Arzneimitteln fiel. Das verdanken wir der Zusammenarbeit von Frau Ulla Schmidt und Herrn Karl Lauterbach.
Durch weltweite Investoren erfolgt die Finanzierung von Versandlogistikern hinter der Grenze Deutschlands. Diese Anbieter, ohne staatliche Kontrollen, die nicht in unser Solidarsystem einzahlen, die sich die Rosinen rauspicken, keinen Kontrahierungszwang haben, sich nicht an Temperaturkontrollen halten müssen, die machen können, was sie wollen, werden als Superhelden der Arzneiversorgung Deutschlands von unseren Politikern gefeiert.
Das sind keine Problemlöser, die sind nicht 24/7 inklusive Notdienst im Einsatz und die sind auch nicht persönlich da.
Andererseits ist ein Versand von Tierarzneimitteln in Europa verboten. Selbst apothekenpflichtige Arzneimittel dürfen ohne tierärztliche Verordnung nicht an den Tierhalter abgegeben werden.
Und warum? Weil unsere Gesetzgebung ein Tier mehr schützt und somit wertvoller macht als einen Menschen!
Man kann ein kaputtes und runtergewirtschaftetes Gesundheitswesen weder mit einer stümperhaften Digitalisierung retten, noch die Leistungserbringer davon überzeugen, Investitionen zu tätigen, wenn es weder Fachkräfte, Wertschätzung, eine entsprechende Vergütung noch jegliche Perspektiven für die Zukunft gibt.
Wir fordern:
1. Eine Honorarerhöhung, die der Inflation der letzten 18 Jahre entspricht, mindestens 12 Euro und eine 5 Prozent Pauschale innerhalb der Kalkulation der RX-Arzneimittel. Weiterhin muss dies jährlich der Inflation angepasst werden.
Nur so können wir unsere pharmazeutischen Fachkräfte halten und Nachwuchs für die Apotheken vor Ort gewinnen.
2. Das Verbot der Retax auf Null. Das ist Diebstahl!
3. Dringende Entbürokratisierungen und Erleichterungen im Rahmen der Nichtlieferfähigkeit von Arzneimitteln.
4. Verbot des Versandhandels für verschreibungspflichtige Arzneimittel.
5. Abschaffung der Präqualifizierung. Aktuell muss man für die Abgabe von Inkontinenzwindeln oder Insulinnadeln zu Lasten der GKV ein aufwendiges und teures Zertifizierungsverfahren durchlaufen. Und wehe das Führungszeugnis, der Grundbuchauszug oder der Mietvertrag haben einen Rechtschreibfehler, dann ist man nicht dafür geeignet gesetzlich Versicherte mit Hilfsmitteln zu versorgen!
Um die Forderungen der Leistungserbringer im Gesundheitswesen zu realisieren, ist eine Verringerung der Anzahl an gesetzlichen Krankenkassen, derzeit 97, dringend notwendig. Dadurch können massive Einsparungen in den Bereichen Geschäftsführung, Management, Verwaltung, Werbung und Sponsoring erreicht werden.
Bedenken Sie, das ein kaputt gespartes Gesundheitssystem nur mit persönlichem Engagement, Motivation, finanziellen Mitteln und vielen Zugeständnissen repariert und von Grund auf saniert werden kann. Und das wäre auch der einzige Weg, um die Bevölkerung in Deutschland wieder qualitativ gut mit Arzneimitteln versorgen und beraten sowie die Therapien überwachen zu können. Wir Apothekerinnen können das gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der Ärzte, Zahnärzte und Heilmittelerbringer schaffen. Aber es müssen endlich die Rahmenbedingungen für die Ausübung unserer Berufe stimmen. Denn nur dann sind wir auch in Zukunft mit viel Herzblut persönlich für die Patienten da.
Daniela Hänel
1. Vorsitzende der Freien Apothekerschaft e. V.
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Sie sind Journalist und wollen mehr wissen? Gerne. Fragen Sie uns.
Wir sind für Sie da: Ihre Ansprechpartner
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Wir fordern, wir decken auf, wir klären auf.
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